Samstag, 4. Januar 2014

Teil 22 - Brüder

Vorher: Teil 21 - Wut

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Müde krabbelte ich aus meinem Bett. Die andere Bettseite war leer, ich hatte nichts anderes erwartet, nachdem Friedbert im Zorn davon gerauscht war. Pascal erzählte mir, das nicht nur Friedbert keine halben Sachen machte, er hatte alle Forschungsergebnisse gelöscht, auch die Daten in den Computern. Kein Wunder das Friedbert so reagiert hatte, ich war mir nicht sicher, ob ich ihn bedauern sollte, oder nicht. Einmal hatte Pascal vollkommen Recht, doch zum anderen war mein Ehemann nun gar nicht mehr zu Hause und ich war nur noch der Kinderpfleger, der gehorchen sollte. Manchmal fragte ich mich was ich auf dieser Erde noch verloren hatte, wenn Friederike nicht wäre, dann hätte ich mich schon längst von ihr verabschiedet…


 Ich versuchte mich wachzuduschen, doch so richtig wirkte das Wasser heute nicht auf mich. Sirius hatte diese Nacht Bauchweh und wenn ich den Kleinen auch wie mein eigenes Kind liebte, wäre ich doch froh gewesen, wenn sein Vater da gewesen wäre. Doch Pascal hatte mit Lars und den Zwillingen genug zu tun. Gott sei Dank ging es mit Lars bergauf, er durfte schon wieder einfache Dinge essen, ich war sicher wenn er wieder vollständig genesen war, haute er sich erst mal ein ordentliches Steak rein und verbannte Kraftbrühe und Griesbrei vom Speiseplan.


Sirius schlief noch, das Bauchweh war weg und er hatte eine Menge Schlaf nachzuholen. Ich würde zwar auch noch gerne schlafen, doch im Gegensatz zu Sirius hatte ich Verpflichtungen. Ich setzte Friederike aufs Töpfchen und nachdem sie damit erfolgreich war, ging ich ihr Frühstück holen.
Zweifelnd stand ich vor dem Behälter mit den Flaschen, den Friedbert aufgestellt hatte. Vitamine und Nährstoffe, das hörte sich nun nicht sehr gefährlich an, aber ich kannte ja inzwischen Friedberts „Drinks“, die waren immer etwas „außergewöhnlich“.
Doch wenn ich Friederike die Flaschen nicht gab, was dann? Wie würde er reagieren?
 

Ich tippte den Code ein, den Friedbert mir gegeben hatte, der Behälter glich einem Bollwerk an Sicherheit. Der Deckel hob sich und ich konnte eine Flasche rausnehmen. Ich schüttelte sie, der Inhalt sah wie gewöhnliche Milch aus. Seufzend gab ich Friederike ihr Fläschchen, die sich sehr darüber freute, sie war schließlich hungrig. Es dauerte auch nicht lange, da hatte sie alles ausgetrunken. Ehe ich ihr die Flasche abnehmen konnte, warf sie sie weg und… begann zu leuchten!
 

Ich geriet in Panik. Oh mein Gott, waren da radioaktive Substanzen drin, oder was?! Mein Kind glühte! Ich traute mich zuerst gar nicht, doch dann fasste ich Friederike an die Stirn, sie war kühl, wie immer, Fieber fiel also schon mal aus. Ich musste den Kinderarzt anrufen, der würde bestimmt helfen…
Nein, das konnte ich vergessen. Am Ende dachten die noch ich hätte mein Kind vergiftet und die Sozialarbeiter würden sie mir wegnehmen… Ich wurde bald verrückt bei der Vorstellung. Was sollte ich nun tun? Was um Himmels Willen sollte ich tun??


Friederike sah mich erstaunt an, als ich hier wie ein wild gewordenes Huhn vor ihr herumtanzte. Ich versuchte mich um ihretwillen wieder zu beruhigen.
„Oh mein kleiner Schatz, was mache ich denn nun mit dir?“
„Papa Terry, gibst du mir bitte das Physikbuch herunter?“
Starr vor Schreck sah ich meine glühende Tochter an. Sie hatte gesprochen! Ein elf Monate altes Mädchen sprach mit mir, in ganzen Sätzen, und nicht nur das, sie wollte… LESEN! Ein Fachbuch! Unfähig irgendetwas sonst zu tun, ging ich an das Bücherregal und holte ihr das gewünschte Buch.


 Friederike nahm es in ihre kleinen Hände und vertiefte sich sofort darin. Ich setzte mich auf die Couch, total mit den Nerven fertig. Was heckte Friedbert nur aus? War das nun schlecht für Friederike? Alle Eltern wünschten sich kluge und fleißige Kinder, die in der Schule keine Schwierigkeiten hatten, doch war das nicht übertrieben? Mit zitternden Händen fuhr ich mir übers Gesicht. Ich wusste nun nicht mehr was ich tun sollte, alles in mir drin schrie ich solle
Friederike schnappen und abhauen, einfach verschwinden, von den ganzen Schwierigkeiten, von den Problemen, von einem Ehemann, der mich und seine Tochter als Versuchskaninchen missbrauchte…


Doch ich konnte das nicht. Wo sollte ich hin? Von was leben? Außerdem würde das Friedbert niemals zulassen. Eher würde er mich umbringen. Und ich konnte auch Lars und Pascal nicht im Stich lassen. Wie ich es drehte und wendete, ich saß so tief in der Scheiße, das es schon meilenweit zu riechen war. Als ich mich nach einer Ewigkeit wieder beruhigt hatte, sah ich nach Friederike. Sie las immer noch in dem Buch, doch das Glühen war nun vorbei. Ob nun auch die Fähigkeit zu Sprechen wieder weg war?

„Komm, meine Kleine, es ist nun Schluss mit Lesen. Du musst ins Bett.“
„Nein, Daddy, ich bin erst beim Magnetismus, ich mag jetzt noch nicht aufhören!“ Entschlossen nahm ich ihr das Buch ab und stellte es zurück ins Regal. Friederike zeterte zwar, aber ich steckte sie energisch ins Bett, sie war immer noch ein Kleinkind und brauchte ihren Schlaf, verdammt!


 Ich warf entnervt die Kinderzimmertür hinter mir zu. Friederike schrie in ihrem Bett, ich konnte froh sein, das sie noch keine Schimpfwörter kannte! Meine Nerven lagen blank. Ich hielt das nicht aus. Und ich konnte mit niemandem darüber reden, mit niemandem!
Und nun klingelte es auch noch an der Tür! Verdammt, ich konnte jetzt keinen Besuch gebrauchen! Rasend vor Zorn lief ich zur Tür und riss sie auf.
„Wer zur Hölle…“

Mitten im Satz verschlug es mir die Sprache. „Rick! Oh du meine Güte! Rick!“
Ich fiel ihm um den Hals. Es war mein Bruder, mein lieber, kleiner, jüngerer Bruder Rick!


 Wir drückten uns so fest, dass uns die Luft weg blieb.
„Hallo Terry! Ist das schön dich zu sehen!“
„Was machst du hier?“ fragte ich. „Woher weißt du wo ich wohne? Und du siehst gut aus! Die gleichen Piercings wie ich?“
Rick grinste entschuldigend. „Der Typ im Tattoo Studio meinte die hätte er schon mal einem anderen Lockenkopf verpasst und das hätte cool ausgesehen.“

Ich lachte und ließ Rick herein. Ich bot ihm einen Platz auf unserer Couch an.
„Ich habe bei euch unten im Tal geklingelt und als ein fremder Mann öffnete, war mir fast klar, was los ist. Warum habt ihr euch getrennt? Ist Lara mit dem Typen da durchgebrannt? Schnuckeliges Kerlchen, die Latinos haben was für sich!“
Entsetzt sah ich meinen Bruder an. „Nein, sie ist nicht mit ihm durchgebrannt“ antwortete ich endlich. „Ich… ich hab sie betrogen und sie hat mich dann rausgeworfen. Lutz hat sie nach unserer Scheidung geheiratet.“


Rick zog die Augenbrauen hoch. „DU bist fremdgegangen? Das muss ja ne heiße Mieze gewesen sein, wenn du so eine Frau wie Lara betrügst!“
„Keine Mieze“ erklärte ich kleinlaut. „Ein Kater.“
Oder ein Tiger, wie man es sehen wollte…
Rick schlug sich lachend auf die Schenkel. „Nee, oder? Ich hätte ja alles von dir erwartet, nur das gerade nicht! Und du hast mich immer dafür schief angesehen…“
„Aber nie verurteilt, das weißt du.“
„Ja, weiß ich“ gab Rick zu. „Du nicht. Du hast mich immer akzeptiert, wie ich war. Und dafür liebe ich dich über alles, Bruderherz.“
 

Ich lächelte Rick dankbar an. Er kam mir im Moment wie ein Gottesgeschenk vor, genau in dem Moment, in dem ich jemanden gebraucht habe, steht er vor der Tür. Das Leben spielt schon komisch, manchmal…
„Wie geht’s denn deinen Jungs? Wie alt sind die eigentlich inzwischen?“
„Dreiundzwanzig und Zweiundzwanzig, Niels ist auf dem College und Lars ist verheiratet, er liegt gerade im Krankenhaus und hat seine Zwillinge bekommen.“
„Er liegt im Krankenhaus? Du meinst wohl, seine Frau liegt im Krankenhaus.“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, er. Er hat die Kinder ausgetragen. Er war schwanger, von seinem Ehemann.“


Rick blieb der Mund offen stehen und er schaute mich an, als wenn er nicht sicher wäre ob ich ihn veräppeln wollte, oder nicht.
Ich seufzte und erzählte ihm alles. Angefangen von meinem Betrug, über die Trennung, meine Hochzeit mit Friedbert und meiner Schwangerschaft, bis zur beinahe tödlichen Geburt der Zwillinge.
Rick hörte mir staunend zu, runzelte ab und an die Stirn, schüttelte immer wieder den Kopf. Er war zwar auch eher der Wissens-Typ, doch er war Maler und was ich ihm alles erzählte, schien ihm nicht zu gefallen.
„Ich weiß nicht, Terry, was hier alles im Namen der Wissenschaft passiert, klingt für mich höchst kriminell. Du solltest dir überlegen, was du tust.“


 „Ich weiß“ sagte ich seufzend und erhob mich, um nach den Kindern zu schauen. Rick folgte mir und bestaunte die beiden Kleinen. Auch er hatte zuvor noch nie einen Alien gesehen, war aber sofort fasziniert von dem Kleinen und er half mir die Kinder zu versorgen. Um Friederike kümmerte ich mich, die seit ihrer Super-Flasche unaufhörlich plapperte und Fragen stellte, dass sich mir angesichts ihres Alters die Haare sträubten. Ich hatte Rick auch von der merkwürdigen Milch erzählt und er beäugte Friederike mit gemischten Gefühlen. Ich wusste was er dachte, doch ich konnte an der Situation nichts ändern.


 Für den Abend bestellte ich eine Nanny, ich wollte mir meinem Bruder in eine Kneipe gehen, mal wieder richtig einen drauf machen, so wie früher, als wir noch jünger waren und ich mich mit meinem acht Jahre jüngeren Bruder bis spät in die Nacht draußen herumtrieb, nur um nicht nach Hause zu müssen. Die Nanny kam und wir fuhren in die Downtown. Geld hatte ich genug dabei, das war das Einzige, was ich momentan von meinem Ehemann hatte, kaltes Geld, keine Liebe, kein Sex. Also musste seine Kreditkarte herhalten.


 Wir suchten uns eine nette Kneipe und fingen an die Karte von oben nach unten durchzugehen. Ich war sonst kein großer Trinker, doch heute war das einfach fällig. Ich hatte das Bedürfnis meine Probleme zu ertränken und mit wem konnte ich das besser, als mit meinem Bruder…
„So, nun erzähl du mal“ forderte ich ihn auf. „Was hat dich hierher verschlagen? Ich dachte du bist in Europa?“
„War ich auch“ erzählte Rick. „Ich war acht Jahre lang in Paris. Hab gemalt. Hab sogar Einiges verkauft.“
„Reich bist du dabei aber nicht geworden, so wie du aussiehst.“ erwiderte ich und beäugte misstrauisch seine schmale Statur.
 

„Naja, ich hab die Kohle halt gebraucht… Paris ist nicht billig…“
„Trägst du deswegen langärmlige Sachen, obwohl es hier so warm ist? Weil… Paris in einigen Dingen nicht billig ist?“
Rick sah mich einen Moment an, dann widmete er sich wieder seinem Drink. Er antwortete nicht.
Ich seufzte enttäuscht. „Ich dachte du wolltest damit aufhören.“
„Wollte ich auch. Werde ich auch. Irgendwann.“
Ich nickte langsam und ging nicht weiter drauf ein. „Wo willst du eigentlich hin? Versteh mich nicht falsch, ich bin froh das du wieder da bist, aber bei uns ist für dauerhaft kein Platz, wie du ja jetzt weißt.“


 „Ich weiß. Ich werde wieder zurückgehen, Terry, zurück nach Seattle. Ich hab das verdammte Haus geerbt.“
Ich wurde blass. „Du willst wieder zurück?“ fragte ich leise. „Bist du dir sicher?“
„Ja, Terry, bin ich. Vielleicht hilft mir das, vielleicht kann ich dann endlich alles hinter mir lassen.“
„Hinter dir lassen? Indem du dich damit konfrontierst?“
„Ja“ sagte Rick entschieden. Man kann doch nicht nur davonlaufen, oder?“
„Kann man nicht“ stimmte ich leise zu. „Doch ich würde nie mehr dahin gehen, niemals mehr. Ich will damit nichts mehr zu tun haben. Ich habe meine beschissene Jugend da verbracht, das reicht mir.“


Stumm nippten wir an unseren Getränken. Erinnerungen aus meiner Jugendzeit kamen hoch, ich fühlte wieder die Kälte der Zimmer, wenn im Winter wieder mal die Heizung ausgefallen war, ich spürte die Schläge meines Vaters, wenn er wieder mal betrunken war, ich hörte die Schreie meiner Mutter, wenn sie unter meinem Vater zu leiden hatte und ich hörte das Weinen meines kleinen Bruders, wenn er sich vor Angst wieder einmal in die Hosen gemacht hatte.
Unsere Jugendzeit war bestimmt von Härte und Kälte, vielleicht war das der Grund, warum es mich in die Wüste verschlagen hatte. Ich blieb recht lange zu Hause, trotz meines brutalen Vaters, doch ich konnte Rick nicht alleine lassen. Erst als er ein Stipendium für die Akademie bekam und unser Haus verließ, zog ich nach Strangetown, wo ich Lara traf…


 Ich leerte mein Glas in einem Zug und winkte dem Barkeeper. „Noch ne Runde.“
Dann lächelte ich meinen Bruder an. „Du schaffst das. Jetzt feiern wir erst mal unser Wiedersehen. Und in ein paar Tagen ist Weihnachten. Unser erstes, gemeinsames, friedliches Weihnachten in unserem Leben.“
Rick sah mich mit leicht glasigen Augen an, dann stießen wir unsere Gläser aneinander und tranken auf unser Wiedersehen.
 

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