----
Müde krabbelte ich aus meinem Bett.
Die andere Bettseite war leer, ich hatte nichts anderes erwartet,
nachdem Friedbert im Zorn davon gerauscht war. Pascal erzählte mir,
das nicht nur Friedbert keine halben Sachen machte, er hatte alle
Forschungsergebnisse gelöscht, auch die Daten in den Computern. Kein
Wunder das Friedbert so reagiert hatte, ich war mir nicht sicher, ob
ich ihn bedauern sollte, oder nicht. Einmal hatte Pascal vollkommen
Recht, doch zum anderen war mein Ehemann nun gar nicht mehr zu Hause
und ich war nur noch der Kinderpfleger, der gehorchen sollte.
Manchmal fragte ich mich was ich auf dieser Erde noch verloren hatte,
wenn Friederike nicht wäre, dann hätte ich mich schon längst von
ihr verabschiedet…
Ich
versuchte mich wachzuduschen, doch so richtig wirkte das Wasser heute
nicht auf mich. Sirius hatte diese Nacht Bauchweh und wenn ich den
Kleinen auch wie mein eigenes Kind liebte, wäre ich doch froh
gewesen, wenn sein Vater da gewesen wäre. Doch Pascal hatte mit Lars
und den Zwillingen genug zu tun. Gott sei Dank ging es mit Lars
bergauf, er durfte schon wieder einfache Dinge essen, ich war sicher
wenn er wieder vollständig genesen war, haute er sich erst mal ein
ordentliches Steak rein und verbannte Kraftbrühe und Griesbrei vom
Speiseplan.
Sirius
schlief noch, das Bauchweh war weg und er hatte eine Menge Schlaf
nachzuholen. Ich würde zwar auch noch gerne schlafen, doch im
Gegensatz zu Sirius hatte ich Verpflichtungen. Ich setzte Friederike
aufs Töpfchen und nachdem sie damit erfolgreich war, ging ich ihr
Frühstück holen.
Zweifelnd stand ich vor dem Behälter
mit den Flaschen, den Friedbert aufgestellt hatte. Vitamine und
Nährstoffe, das hörte sich nun nicht sehr gefährlich an, aber ich
kannte ja inzwischen Friedberts „Drinks“, die waren immer etwas
„außergewöhnlich“.
Doch wenn ich Friederike die Flaschen
nicht gab, was dann? Wie würde er reagieren?
Ich tippte
den Code ein, den Friedbert mir gegeben hatte, der Behälter glich
einem Bollwerk an Sicherheit. Der Deckel hob sich und ich konnte eine
Flasche rausnehmen. Ich schüttelte sie, der Inhalt sah wie
gewöhnliche Milch aus. Seufzend gab ich Friederike ihr Fläschchen,
die sich sehr darüber freute, sie war schließlich hungrig. Es
dauerte auch nicht lange, da hatte sie alles ausgetrunken. Ehe ich
ihr die Flasche abnehmen konnte, warf sie sie weg und… begann zu
leuchten!
Ich geriet
in Panik. Oh mein Gott, waren da radioaktive Substanzen drin, oder
was?! Mein Kind glühte! Ich traute mich zuerst gar nicht, doch dann
fasste ich Friederike an die Stirn, sie war kühl, wie immer, Fieber
fiel also schon mal aus. Ich musste den Kinderarzt anrufen, der würde
bestimmt helfen…
Nein, das konnte ich vergessen. Am Ende
dachten die noch ich hätte mein Kind vergiftet und die
Sozialarbeiter würden sie mir wegnehmen… Ich wurde bald verrückt
bei der Vorstellung. Was sollte ich nun tun? Was um Himmels Willen
sollte ich tun??
Friederike
sah mich erstaunt an, als ich hier wie ein wild gewordenes Huhn vor
ihr herumtanzte. Ich versuchte mich um ihretwillen wieder zu
beruhigen.
„Oh mein kleiner Schatz, was mache
ich denn nun mit dir?“
„Papa Terry, gibst du mir bitte das
Physikbuch herunter?“
Starr vor Schreck sah ich meine
glühende Tochter an. Sie hatte gesprochen! Ein elf Monate altes
Mädchen sprach mit mir, in ganzen Sätzen, und nicht nur das, sie
wollte… LESEN! Ein Fachbuch! Unfähig irgendetwas sonst zu tun,
ging ich an das Bücherregal und holte ihr das gewünschte Buch.
Friederike
nahm es in ihre kleinen Hände und vertiefte sich sofort darin. Ich
setzte mich auf die Couch, total mit den Nerven fertig. Was heckte
Friedbert nur aus? War das nun schlecht für Friederike? Alle Eltern
wünschten sich kluge und fleißige Kinder, die in der Schule keine
Schwierigkeiten hatten, doch war das nicht übertrieben? Mit
zitternden Händen fuhr ich mir übers Gesicht. Ich wusste nun nicht
mehr was ich tun sollte, alles in mir drin schrie ich solle
Friederike schnappen und abhauen,
einfach verschwinden, von den ganzen Schwierigkeiten, von den
Problemen, von einem Ehemann, der mich und seine Tochter als
Versuchskaninchen missbrauchte…
Doch ich
konnte das nicht. Wo sollte ich hin? Von was leben? Außerdem würde
das Friedbert niemals zulassen. Eher würde er mich umbringen. Und
ich konnte auch Lars und Pascal nicht im Stich lassen. Wie ich es
drehte und wendete, ich saß so tief in der Scheiße, das es schon
meilenweit zu riechen war. Als ich mich nach einer Ewigkeit wieder
beruhigt hatte, sah ich nach Friederike. Sie las immer noch in dem
Buch, doch das Glühen war nun vorbei. Ob nun auch die Fähigkeit zu
Sprechen wieder weg war?
„Komm, meine Kleine, es ist nun
Schluss mit Lesen. Du musst ins Bett.“
„Nein, Daddy, ich bin erst beim
Magnetismus, ich mag jetzt noch nicht aufhören!“ Entschlossen nahm
ich ihr das Buch ab und stellte es zurück ins Regal. Friederike
zeterte zwar, aber ich steckte sie energisch ins Bett, sie war immer
noch ein Kleinkind und brauchte ihren Schlaf, verdammt!
Ich warf
entnervt die Kinderzimmertür hinter mir zu. Friederike schrie in
ihrem Bett, ich konnte froh sein, das sie noch keine Schimpfwörter
kannte! Meine Nerven lagen blank. Ich hielt das nicht aus. Und ich
konnte mit niemandem darüber reden, mit niemandem!
Und nun klingelte es auch noch an der
Tür! Verdammt, ich konnte jetzt keinen Besuch gebrauchen! Rasend vor
Zorn lief ich zur Tür und riss sie auf.
„Wer zur Hölle…“
Mitten im Satz verschlug es mir die Sprache. „Rick! Oh du meine Güte! Rick!“
Ich fiel ihm um den Hals. Es war mein
Bruder, mein lieber, kleiner, jüngerer Bruder Rick!
Wir drückten
uns so fest, dass uns die Luft weg blieb.
„Hallo Terry! Ist das schön dich zu
sehen!“
„Was machst du hier?“ fragte ich.
„Woher weißt du wo ich wohne? Und du siehst gut aus! Die gleichen
Piercings wie ich?“
Rick grinste entschuldigend. „Der Typ
im Tattoo Studio meinte die hätte er schon mal einem anderen
Lockenkopf verpasst und das hätte cool ausgesehen.“
Ich lachte und ließ Rick herein. Ich
bot ihm einen Platz auf unserer Couch an.
„Ich habe bei euch unten im Tal
geklingelt und als ein fremder Mann öffnete, war mir fast klar, was
los ist. Warum habt ihr euch getrennt? Ist Lara mit dem Typen da
durchgebrannt? Schnuckeliges Kerlchen, die Latinos haben was für
sich!“
Entsetzt sah ich meinen Bruder an.
„Nein, sie ist nicht mit ihm durchgebrannt“ antwortete ich
endlich. „Ich… ich hab sie betrogen und sie hat mich dann
rausgeworfen. Lutz hat sie nach unserer Scheidung geheiratet.“
Rick zog die
Augenbrauen hoch. „DU bist fremdgegangen? Das muss ja ne heiße
Mieze gewesen sein, wenn du so eine Frau wie Lara betrügst!“
„Keine Mieze“ erklärte ich
kleinlaut. „Ein Kater.“
Oder ein Tiger, wie man es sehen
wollte…
Rick schlug sich lachend auf die
Schenkel. „Nee, oder? Ich hätte ja alles von dir erwartet, nur das
gerade nicht! Und du hast mich immer dafür schief angesehen…“
„Aber nie verurteilt, das weißt du.“
„Ja, weiß ich“ gab Rick zu. „Du
nicht. Du hast mich immer akzeptiert, wie ich war. Und dafür liebe
ich dich über alles, Bruderherz.“
Ich lächelte
Rick dankbar an. Er kam mir im Moment wie ein Gottesgeschenk vor,
genau in dem Moment, in dem ich jemanden gebraucht habe, steht er vor
der Tür. Das Leben spielt schon komisch, manchmal…
„Wie geht’s denn deinen Jungs? Wie
alt sind die eigentlich inzwischen?“
„Dreiundzwanzig und Zweiundzwanzig,
Niels ist auf dem College und Lars ist verheiratet, er liegt gerade
im Krankenhaus und hat seine Zwillinge bekommen.“
„Er liegt im Krankenhaus? Du meinst
wohl, seine Frau liegt im Krankenhaus.“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, er.
Er hat die Kinder ausgetragen. Er war schwanger, von seinem Ehemann.“
Rick blieb
der Mund offen stehen und er schaute mich an, als wenn er nicht
sicher wäre ob ich ihn veräppeln wollte, oder nicht.
Ich seufzte und erzählte ihm alles.
Angefangen von meinem Betrug, über die Trennung, meine Hochzeit mit
Friedbert und meiner Schwangerschaft, bis zur beinahe tödlichen
Geburt der Zwillinge.
Rick hörte mir staunend zu, runzelte
ab und an die Stirn, schüttelte immer wieder den Kopf. Er war zwar
auch eher der Wissens-Typ, doch er war Maler und was ich ihm alles
erzählte, schien ihm nicht zu gefallen.
„Ich weiß nicht, Terry, was hier
alles im Namen der Wissenschaft passiert, klingt für mich höchst
kriminell. Du solltest dir überlegen, was du tust.“
„Ich weiß“
sagte ich seufzend und erhob mich, um nach den Kindern zu schauen.
Rick folgte mir und bestaunte die beiden Kleinen. Auch er hatte zuvor
noch nie einen Alien gesehen, war aber sofort fasziniert von dem
Kleinen und er half mir die Kinder zu versorgen. Um Friederike
kümmerte ich mich, die seit ihrer Super-Flasche unaufhörlich
plapperte und Fragen stellte, dass sich mir angesichts ihres Alters
die Haare sträubten. Ich hatte Rick auch von der merkwürdigen Milch
erzählt und er beäugte Friederike mit gemischten Gefühlen. Ich
wusste was er dachte, doch ich konnte an der Situation nichts ändern.
Für den
Abend bestellte ich eine Nanny, ich wollte mir meinem Bruder in eine
Kneipe gehen, mal wieder richtig einen drauf machen, so wie früher,
als wir noch jünger waren und ich mich mit meinem acht Jahre
jüngeren Bruder bis spät in die Nacht draußen herumtrieb, nur um
nicht nach Hause zu müssen. Die Nanny kam und wir fuhren in die
Downtown. Geld hatte ich genug dabei, das war das Einzige, was ich
momentan von meinem Ehemann hatte, kaltes Geld, keine Liebe, kein
Sex. Also musste seine Kreditkarte herhalten.
Wir suchten
uns eine nette Kneipe und fingen an die Karte von oben nach unten
durchzugehen. Ich war sonst kein großer Trinker, doch heute war das
einfach fällig. Ich hatte das Bedürfnis meine Probleme zu ertränken
und mit wem konnte ich das besser, als mit meinem Bruder…
„So, nun erzähl du mal“ forderte
ich ihn auf. „Was hat dich hierher verschlagen? Ich dachte du bist
in Europa?“
„War ich auch“ erzählte Rick. „Ich
war acht Jahre lang in Paris. Hab gemalt. Hab sogar Einiges
verkauft.“
„Reich bist du dabei aber nicht
geworden, so wie du aussiehst.“ erwiderte ich und beäugte
misstrauisch seine schmale Statur.
„Naja, ich
hab die Kohle halt gebraucht… Paris ist nicht billig…“
„Trägst du deswegen langärmlige
Sachen, obwohl es hier so warm ist? Weil… Paris in einigen Dingen
nicht billig ist?“
Rick sah mich einen Moment an, dann
widmete er sich wieder seinem Drink. Er antwortete nicht.
Ich seufzte enttäuscht. „Ich dachte
du wolltest damit aufhören.“
„Wollte ich auch. Werde ich auch.
Irgendwann.“
Ich nickte langsam und ging nicht
weiter drauf ein. „Wo willst du eigentlich hin? Versteh mich nicht
falsch, ich bin froh das du wieder da bist, aber bei uns ist für
dauerhaft kein Platz, wie du ja jetzt weißt.“
„Ich weiß.
Ich werde wieder zurückgehen, Terry, zurück nach Seattle. Ich hab
das verdammte Haus geerbt.“
Ich wurde blass. „Du willst wieder
zurück?“ fragte ich leise. „Bist du dir sicher?“
„Ja, Terry, bin ich. Vielleicht hilft
mir das, vielleicht kann ich dann endlich alles hinter mir lassen.“
„Hinter dir lassen? Indem du dich
damit konfrontierst?“
„Ja“ sagte Rick entschieden. Man
kann doch nicht nur davonlaufen, oder?“
„Kann man nicht“ stimmte ich leise
zu. „Doch ich würde nie mehr dahin gehen, niemals mehr. Ich will
damit nichts mehr zu tun haben. Ich habe meine beschissene Jugend da
verbracht, das reicht mir.“
Stumm
nippten wir an unseren Getränken. Erinnerungen aus meiner Jugendzeit
kamen hoch, ich fühlte wieder die Kälte der Zimmer, wenn im Winter
wieder mal die Heizung ausgefallen war, ich spürte die Schläge
meines Vaters, wenn er wieder mal betrunken war, ich hörte die
Schreie meiner Mutter, wenn sie unter meinem Vater zu leiden hatte
und ich hörte das Weinen meines kleinen Bruders, wenn er sich vor
Angst wieder einmal in die Hosen gemacht hatte.
Unsere Jugendzeit war bestimmt von
Härte und Kälte, vielleicht war das der Grund, warum es mich in die
Wüste verschlagen hatte. Ich blieb recht lange zu Hause, trotz
meines brutalen Vaters, doch ich konnte Rick nicht alleine lassen.
Erst als er ein Stipendium für die Akademie bekam und unser Haus
verließ, zog ich nach Strangetown, wo ich Lara traf…
Ich leerte
mein Glas in einem Zug und winkte dem Barkeeper. „Noch ne Runde.“
Dann lächelte ich meinen Bruder an.
„Du schaffst das. Jetzt feiern wir erst mal unser Wiedersehen. Und
in ein paar Tagen ist Weihnachten. Unser erstes, gemeinsames,
friedliches Weihnachten in unserem Leben.“
Rick sah mich mit leicht glasigen Augen
an, dann stießen wir unsere Gläser aneinander und tranken auf unser
Wiedersehen.
----
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen